Dezember 12, 2021

Lauterbach-Watch, Staffel 1: evidenzbasierte Gesundheitspolitik im Visier

Eins muss man dem neuen Gesundheitsminister lassen. Er ist vom Fach und setzt neue Standards für die Begründung gesundheitspolitischer Entscheidungen. Er will eine wissenschaftlich begründete Gesundheitspolitik betreiben. Soweit so gut. Besonders hilfreich ist dabei, dass er seine Argumente – bislang nur in der Corona-Politik – auf wissenschaftliche Studien stützt, die er auch auf seiner Website verlinkt: karllauterbach.de. Diese Transparenz ist als gut zu betrachten. Wir werden sehen, ob sie auch hilfreich ist, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. (Nachtrag, 07.01.22: Leider – wie durch den durchgestrichenen Link erkennbar – wurde über den Jahreswechsel 2021/22 die Website von Hr. Lauterbach gelöscht. Das heißt, dass sich seine Entscheidungstransparenz verdunkelt hat – vielleicht war er zu angreifbar? Er wurde ja bereits im Sommer 2021 für seinen zum Teil manischen Bezug auf (nur) „eine“, eben: „die“ Studie von der BILD heftig kritisiert; damit ist diesem Webprojekt eine Quelle aus erster Hand abhanden gekommen. Das macht das Ziel, „Lauterbach-Watch“ zu betreiben, zwar nicht hinfällig, aber schwieriger. Positiv gewendet, muss sich Lauterbach nun auch mit dem Expertengremium auseinandersetzen, das – schlitzohrig – Kanzler Scholz installiert hat – um den neuen Herren im BMG zu kontrollieren? Wir werden es sehen. Die Staffel geht trotzdem weiter und muss sich dann um weitere relevante Quellen bemühen, die die Politik im BMG anleiten. Sei’s drum.)

Ein Problem ist freilich, dass die Häufigkeit von Posts zu „neuen“ Studienergebnissen so dicht ist, dass es kaum möglich scheint, dass Normalsterbliche diesem argumentativen Trommelfeuer standhalten können. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Laufbahn ist der neue Bundesgesundheitsminister zweifellos in der Lage, 4-5 Studien – so wurde er mal in einer Talkshow vorgestellt – in einer Nacht zu lesen, weil er so wenig Schlaf bräuchte. Nun weiß ich natürlich nicht, wie Prof. Dr. Lauterbach, seine Studien liest (vielleicht nur die Abstracts und Ergebnisse? Oder auch die Diskussion?). Aber 4-5 Studien pro Nacht kommt mir dann doch sehr ambitioniert vor. Realistischer ist wohl die Annahme, dass auch ein wissenschaftlicher Überflieger – und als solcher wird er wahrgenommen – mit Wasser kocht, i.e. dass er sich in Diskursnetzwerken bewegt, die entsprechende „gute“ Studien disseminieren. Er lebt folglich auch in einer sog. „Filterblase“. Alles andere wäre sensationell und – um mit Niklas Luhmann zu sprechen – höchst unwahrscheinlich, wie die ganze Geschichte der Wissenschaftsentwicklung und die etablierte Wissenschaftssoziologie belegt. Die vielen UK-Studien, die er zititert, könnten ein Indiz auf eine solche mögliche „Blase“ sein. Er selbst schreibt in seinem neuesten Buch ja genau davon: gut vernetzt zu sein.

Eine wirkliche Evidenzbasierung der Gesundheitspolitik würde nämlich voraussetzen, dass zu einer Fragestellung alle vorhandenen Studien herangezogen werden, die dazu in angesehen Journals (und ggf. darüber hinaus, also auch in der sog. „grauen Literatur“ von Kommissionsberichten und/oder Auftragsstudien) veröffentlicht wurden. Das ist eine Heidenarbeit und nennt sich systematischer Review und dauert bisweilen Wochen, wenn nicht gar Monate, um arbeitsteilig ausgewertet zu werden. Man kann sich daher des Eindruckes nicht erwehren, dass zumindest in der argumentativen Praxis des neuen Gesundheitsministers vor allem Studien herangezogen werden, die eine bestimmte Sichtweise, nämlich seine eigene, unterstützen. Das ist aufgrund der vermutlich selektiven Wahrnehmung und Auswahl der auf seiner Website veröffentlichten Studien auch kaum überraschend. Dies wäre also gewissermaßen die „Nullhypothese“ dieser Staffel.

Die Gefahr einer solchen, mutmaßlichen, möchte ich hier betonen, selektiven Zitationspraxis ist in der Wissenschaftssoziologie allerdings wohlbekannt. Die Logik wissenschaftlichen Arbeitens ist trotz aller Versprechen, auch abweichende Auffassungen mit in die Betrachtung zu ziehen, zumeist von „Zitationskartellen“ geprägt, zu denen auch die „hoch gerankten“ Journals nicht wenig im Prozess des „Peer-Reviewing“ beitragen. Nicht nur in der Sozialwissenschaft, sondern – so ist nachweisbar – auch in den Naturwissenschaften, ist diese Praxis häufig gang und gäbe. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern wurde bereits von dem Soziologen Richard Münch in seinem lesenswerten Buch über den „Akademischen Kapitalismus“, aber auch in anderen wissenschaftssoziologischen Beiträgen als veritables gesellschaftspolitisches (Erkenntnis-)Problem kenntlich gemacht. Ihre Gefahr besteht darin, einen Tunnelblick auf Problemlagen zu befördern und sich in (real-)politische Sackgassen hineinzumanövrieren.

In der heute startenden Pilotfolge zur “1. Staffel“ von „Lauterbach-Watch“ geht es um den Begriff der evidenzbasierten Gesundheitspolitik, den der neue Bundesgesundheitsminister für sich beansprucht. Grundsätzlich behauptet jede Bundesregierung natürlich, nicht nur das BMG, sondern jedes Ministerium und Behörde (allein schon aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit der Entscheidungen), dass ihre Entscheidungen und Argumente evidenzbasiert sind. Dies ist nichts Neues und ist schon mindestens seit den 1960er Jahren unter dem Begriff der „Verwissenschaftlichung von Politik“ bekannt. Wer aber jetzt meint, das wäre doch begrüßenswert, vergisst allerdings, dass Verwissenschaftlichung nicht bedeutet, dass die entsprechenden Grundlagen politischer Entscheidungen völlig frei wären von konkurrierenden Interessen oder divergierenden Weltanschauungen oder alternativen Interpretationen. Weit gefehlt. Es ist ein in der politischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Truismus der Politischen Soziologie und in den Politischen Wissenschaften, dass vorgelagerte Interessen, Weltanschauungen und disziplinäre Blickwinkel die Wahrnehmung von Problemen ebenso präjudizieren können wie sie (angeblich: objektive) Maßnahmen als „ideale Lösungswege“ nahelegen.

Anders gesagt: Evidenzbasierung ist manchmal nicht das, was darauf steht, sondern eine sehr spezielle Interpretation derselben. Im Kern ist sie in einer methodischen Herangehensweise begründet und drückt sich keineswegs in der in der politischen Öffentlichkeit vorherrschenden Sichtweise aus. Dadurch, dass die Evidenbasierung jedoch vor allem einen methodologischen Positivismus vertritt, ist sie offen für inhaltliche Pluralität. Das kann ein Vorteil sein, aber in einer vermachteten politischen Öffentlichkeit und/oder politisierten Wissenschaft auch ein Nachteil. Dass die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden sind, wusste bereits der olle Marx; dass zudem die herrschenden Ideen irren können, brauche ich hier aufgrund der vielfältigen historischen Beispiele (geozentriertes Weltbild, Antisemitismus, Ungefährlichkeit der Kernenergie) hoffentlich nicht zu betonen. Folglich ist hier strikt zwischen den Debatten in der medial vermachteten politischen Öffentlichkeit und dem (idealen oder sollte ich sagen: idealisierten?) wissenschaftlichem Diskurs zu trennen, auch wenn zunehmend beide Spähren verschwimmen, wie spätestens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ jedem Denkenden klar sein kann: die Verwissenschaftlichung hat vor der Umweltbewegung nicht haltgemacht. Ganz im Gegenteil, sie hat im International Panel on Climate Change (IPCC) zweifellos ihre Apotheose und Krönung erfahren.

Von beredten Wissenschaftler:innen wird dann gern auch diese lange Entwicklung des IPCC als Beispiel der Objektivierung der Wissenschaft in der Corona-Pandemie herangezogen und – in unnachahmlicher Perfidie – jedwede Kritik an der Interpretation des Verlaufs oder der beschlossenen Maßnahmen als „Corona-Leugnung“ zurückgewiesen (besonders unrühmlich ist dabei leider der renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf vorgegangen, als er im Frühmärz 2020 den Pharmakritiker Wolfgang Wodarg als solchen denunziert oder anders gesagt: runtergeputzt hat; siehe dazu: hier). Die 35-jährige Geschichte des IPCC jedoch mit der überaus kurzen Entwicklung der Corona-Forschung zu vergleichen (und das im besagten Fall von Hr. Rahmstorf wenige Wochen nach der Identzifizierung der ersten Fälle von Covid-19 in Deutschland), ist schon atemberaubend. Vor allem, wenn man die beteiligten ökonomischen Interessen reflektiert (v.a. die globale Pharmaindustrie), die es beim IPCC-Prozess (zunächst) nicht gab. Dass der ökologische „Reparaturbetrieb“ in kapitalistischen Gesellschaften sich auch als Geschäftsmodell zeigen kann, aber vielleich auch muss, kann auch schon in der „Risikogesellschaft“ nachgelesen werden. Das entwertet keineswegs die auch marktwirtschaftlichen Interessen an einer ökologischen Transformation (wobei das m.E. ein Widerspruch in sich ist, das ist aber ein anderes Thema), holt sie aber vom ethisch-objektiven Olymp runter. Geschäftsmodelle erden recht stark.

Der allseits behaupteten „Evidenzbasierung“ sollte daher mit einer gewissen Hume‘schen Skepsis begegnet werden. Wer dies gleichsetzen möchte mit einer postmodernen Infragestellung des Anspruchs auf Wahrheit, sollte sich wie einst Karl Marx nochmals in die Bibliotheken setzen und sein Wissensdefizit abbauen. Wenn wissenschaftliche Erkenntnis so einfach wäre, bliebe es unerklärlich, dass zu jeder Studie oft – wenn auch nicht immer und v.a. in den Gesundheitswissenschaften und der Medizin – eine Gegenstudie existiert, die das Gegenteil der ersten behauptet. Und das ist ja letztlich auch der legitimatorische Fluchtpunkt von Wissenschaftler:innen, selbst von den Ikonen der Covid-19-Pandmie wie Hr. Drosten, auf den sie sich – zurecht – zurückziehen, wenn sie zweifeln oder in Widersprüchen verirren. Keine Frage: Wissenschaft betreiben, heißt zweifeln.

Das hält manche medial geblendeten Wissenschaftler:innen leider aber nicht davon ab, die Umwandlung von wissenschaftlicher Skepsis in politische Drastik zu unterstützen. Einer solchen „Politizierung“ von Wissenschaft haftet zurecht der Ruch des Partikularen an. Dieser Anspruch gilt umgekehrt für Hr. Wodarg übrigens nicht weniger. Evidenzbasierung kann vor diesem Hintergrund folglich nur bedeuten, alles verfügbare Wissen heranzuziehen, um sich eine fundierte Bewertung einer Fragestellung erlauben zu können. Dies bedeutet nicht, Personen reflexartig zu unterstellen, sie würden „Mist“ erzählen oder wären schlichtweg „Leugner“ eines Zusammenhangs, den der Kritisierende in religiöser Erleuchtung quasi ihnen voraushabe. Die Michel Foucault zugeschriebene Aussage, es sei nicht wichtig, wer spricht, sondern was spricht und von was nicht gesprochen wird (der Diskurs), sollte das selbstverständliche Leitbild jeder evidenzbasierten (Gesundheits-)Politik sein. Dabei darf aber schon noch ein wenige Ideologiekritik dabei sein. Von wem eine Studie finanziert wurde, welchem Zweck sie dient oder durch welches Nadelöhr sie muss, um gehört zu werden, ist keineswegs unwichtig, sondern muss ein Anreiz sein, besonders kritisch hinzuschauen, ob die Ergebnisse halten, was sie verspechen.

Denunzierung von Kritikern entstammt genauso wie die Verteufelung von Personen bekanntermaßen dem fundamentalchristlichen Mittelalter und sollte in einer aufgeklärten Gesellschaft, sofern wir in einer solchen (noch) leben (wollen), keinen Platz haben. Wenn hier also ein Projekt „Lauterbach-Watch“ begründet wird, dann explizit nicht als Abwertung der Person des neuen Gesundheitsministers, sondern in der Sache des Arguments. Dass der neue Herr im BMG manche Hasstirade gegen sich mit politisch äußerst fragwürdigen und bedrohlich wirkenden Maßnahmespekulationen befördert hat, sollte nicht zu einer gegenteiligen Verteufelung oder Schlimmeren führen. Das allzumenschliche Gebaren, alttestamentarisch Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist nicht nur zur Weihnachtszeit keine sonderlich gute Idee. Außer man möchte die politische Kultur völlig zerrütten und einen Bürgerkrieg anzetteln (was manche Extremisten wohl herbeisehnen und andere wiederum mit offenen, aber nicht sehenden Augen nicht weniger befördern). Wir sollten uns der gegenseitigen Verteufelung des Gegenüber, welche in der Politikwissenschaft zur inneren Festigung einer Politikkoalition als „Devil Shift“ (Paul A. Sabatier) bekannt ist, enthalten, denn sie führt in die „Hölle der Irrationalität“. Zur Frage, was Evidenzbasierung der (Gesundheits-)Politik heißt, muss ich an dieser Stelle den interessierten Leser und seine weiblichen oder diversen Kompagnons auf die Fortsetzung der „Pilotfolge“ dieser ersten Staffel vertrösten. To be continued…

Stand: 12.12.21

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