„Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.“
Johann Wolfgang von Goethe, „Der Zauberlehrling“, 1. Halbvers
„[Und] seien wir ehrlich: Es sind ja nicht nur Impfgegnerinnen und ‚Querdenker‘, die sich an der Regierung der Pandemie stören. Auch wir Normalsterbliche, die wir die Möglichkeit einer todbringenden Infektion nicht negieren, sind ob eines planlos und willkürlich anmutenden Verordnungswesens gehörig genervt, auch wenn wir unserem Unmut auf sozial unauffälligere Weise Ausdruck geben.“
Stephan Lessenich (2022: 32), „Nicht mehr normal“, a.a.O.
I
Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey haben in ihrem Buch über den „libertären Autoritarismus“ eine starke These entwickelt. Sie behaupten, dass gewissermaßen als Nebenfolge individualistischer Rationalisierungsprozesse spätmoderner Gesellschaften sich ein neuer Typus des „Autoritarismus“ herausgebildet habe, der als eine „Transformation“ des von der Kritischen Theorie identifizierten autoritären Charakters gelten kann. Diesen neuen Charaktertypus bezeichnen sie als „libertären Autoritarismus“, der zwar viele Aspekte des alten autoritären Charakters teile, aber insbesondere hinsichtlich der normativen Fundamante seiner radikalen (und – wie sie schreiben – aggressiven) Kritik nicht an staatliche Autoritäten gebunden, sondern in einer (falsch verstandenen) Selbstverwirklichungs-Ideologie verankert sei, die jedoch ein Ausfluss der normativen Ansprüche der Gesellschaft an die individuellen Gesellschaftsmitglieder in spätmodernen Gesellschaften sei: der Neoliberalismus, so ließe sich in ihrem Sinne pointiert aphorisieren, entlässt seine Kinder.
Dieser libertäre Autoritarismus zeige sich in der vehementen, oftmals aggressiven und letztlich „unsolidarischen“ Verteidigung – so ihre Argumentation – einer absolut gesetzten „negativen Freiheit“, die in der politischen Theorie als Kernmerkmal einer neoliberalen Ideologie der Freiheit begriffen und dogmengeschichtlich auf den Erzliberalen Friedrich August von Hayek zurückgeführt wird. In ihrem Buch fassen die Autorin und der Autor empirische Forschungsergebnisse aus drei Fallstudien zusammen, die sie jedoch vorab unter Reflexion der Tradition der (alten) Kritischen Theorie und des in Ihrem Umfeldes entwickelten Konzepts der „autoritären Persönlichkeit“ in das neue Konzept eines „libertären Autoritarismus“ überführen.
Die politische Brisanz ihrer Forschungsergebnisse, die mutmaßlich auch zu der recht positiven Rezeption in einigen Leitmedien geführt hat, liegt darin, dass sie in der Fortführung sozialwissenschaftlicher Überlegungen zur Rückkehr des Rechtspopulismus an bestimmten, als regressiv bewerteten (AN 2022: Kap. 3-5), gesellschaftspolitischen Verarbeitungsweisen von „kulturellen“ Konfliktlinien den Vertreter:innen solcher Verhaltens- und Affektmuster einen neuen Charaktertyp zuweisen, der sich gegen universalisierende Gerechtigkeitsphilosophien der Moderne / der Aufklärung stelle. Mit anderen Worten: die libertär Autoritären personifizieren die in der Spätmoderne angelegte Tendenz zur Gegenaufklärung. Obwohl sie diese Zuspitzung ihrer These in expliziter Form nicht erheben, liegt die Schlussfolgerung wegen Ihres theoretischen Bezugs zur Kritischen Theorie und der (neualten) Frankfurter Schule von Jürgen Habermas und Axel Honneth m.E. deutlich auf der Hand (vgl. AN 2022: Kap 1, 2 und Schluss).i
Die kulturellen Konfliktlinien liegen in den gesellschaftspolitischen Krisenprozessen der „Grenzöffnung“ in Folge der sog. Flüchtlingskrise 2015ff, der staatlichen Pandemiepolitik 2020ff und des Ukraine-Konflikts (im Grunde seit: 2014ff), der seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine (ab dem 24.03.2022) die Gefahr geopolitischer Großkriege wieder auf die Tagesordnung gebracht hat. Um es vorab gleich festzuhalten: das Buch von Amlinger/Nachtwey handelt nicht von den inhaltlichen Dimensionen und Widersprüchen dieser Konflikte, sondern thematisiert allein die (sozial-)psychologische Verarbeitung dieser Krisenprozesse im Umfeld tendenziell rechtspopulistisch geneigter Bürgerinnen und Bürger. Zu den damit bereits anklingenden methodologischen Grenzen der Verallgemeinerung der gefundenen empirischen Ergebnisse der Studie werde ich an späterer Stelle noch ausführlich Stellung nehmen.
II
In ihrem Schlusskapitel (AN 2022: 337ff) plädieren die beiden in der Schweiz lehrenden Akademiker für eine Offenheit des öffentlichen Diskurses für alternatives Denken und gehen – irritierenderweise – ein Stück weit auf manche Kritiken der von ihnen eher in dunklen Farben gezeichneten Kritiker:innen staatlicher Politik zu, indem sie feststellen, dass „sich Linksliberale nicht selten genau wie diejenigen [verhalten, KM], die ihre Privilegien nun teilweise eingebüßt haben: wie Eliten.“ (AN 2022: 344) Doch genau an diesem Punkt hapert es gewaltig an der Rechtschaffenheit in ihrer Studie. Denn ihre Ignoranz materieller Kritikpunkte in der – vorhandenen – Diskussion über die Sinnhaftigkeit von manchen Pandemie-Politik-Maßnahmen z.B. fungiert als eine problematische Rechtfertigung offizieller Nutzungen des wissenschaftlichen Sachverstands. Obwohl sie Ulrich Beck (1986) zu Beginn ihrer Studie zustimmend zitieren, dass die neuen Individualisierungsprozesse keineswegs selbst gewählt, sondern in Abhängigkeiten gepackt sind (AN 2022: 18) – eine im Übrigen völlig korrekte Interpretation – wird seine Kritik der Wissenschaftsgläubigkeit (Beck 1986: 254ff.) und die Fortführung dieses Gedankens in der kritischen Wissenschaftssoziologie (Weingart 2011) völlig ignoriert.ii
Die bei den als autoritär bezeichneten Individuen vorkommende Kritik der Wissenschaft (so laienhaft sie auch sein mag), spiegelt sich in der Argumentation von AN in einer unreflektierten „Staats-“ und „Wissenschaftsgläubigkeit“ (Konsenstheorie des Staates und der Wahrheit), ohne zu bemerken, dass von einer solchen „Neutralität“ der Wissenschaften oder staatlichen Handelns in – wie sie selbst reflektieren – postpolitischen Zeiten nicht mehr geredet werden kann (s.a. Mosebach 2021).iii In jedem Fall ist es – zumindest hinsichtlich der sog. Corona-Pandemiepolitik, die anderen Konfliktlinien seien hier ausgeklammert – sehr fragwürdig, der staatlichen Politik eine vernünftige und weitgehend nachvollziehbare Vorgehensweise zu unterstellen (Schrappe et al. 2020a, 2020b). Die staatliche Pandemiepolitik war auch nicht „universell“ angelegt (AN 2022: 342); wer so etwas behauptet, zeigt nur, dass er / sie an der Sachlage nicht interessiert ist.iv
Hier ist schließlich der Punkt, an der das Buch höchst unkritisch wird und in eine ideologische Rechtfertigung staatlicher Pandemiepolitik kippt, die mittlerweile noch nicht mal in der regierungsnahen wissenschaftlichen Community in derart undifferenzierter Form geäußert wird (BMG-Sachverständigenausschuss 2022). Dass wird auch nicht dadurch aufgefangen bzw. kompensiert, dass AN mit Jürgen Habermas einen philosophisch ausgewiesenen Pandemiepolitik-Verteidiger auf ihrer Seite haben, der in einem Beitrag für eine linksgrüne Politikzeitschrift (2021) den Begriff des libertären Autoritarismus vorweggenommen hat (für eine Kritik seiner höchst fragwürdigen Argumentation: Mosebach 2021).
Dadurch, dass sich die Autorin und der Autor noch nicht einmal ansatzweise mit den Argumenten der Kritiker:innen der benannten kulturellen Konfliktlinien – also an den „Sachfragen“ abarbeiten, sondern vielmehr noch eine dezidierte, aber kaum bestimmbare Gegenposition (im Sinne des „Mainstreams“) vertreten, handeln sie nicht nur wissenschaftlich unseriös, sondern auch in Bezug auf ihre Interviewpartner unethisch. Denn hierdurch sind sie weder „herrschaftskritisch“, wie sie meinen und dies doch als normative Forderung für sich selbst aufstellen (im Schlussteil), noch methodenkritisch, weil sie ihre (für richtig erkannten, aber nicht formulierten) „Wahrheiten“ über die in Frage stehenden „Sachfragen“ an die Interviewten herantragen und unter der Hand zum Maßstab ihrer gesellschaftspolitischen Bewertung der Charakterorientierungen machen.
Hiermit begehen sie allerdings eine Todsünde der qualitativen Sozialforschung, die einst Pierre Bourdieu et al. (1990) seinen Forscherkolleg:innen mit auf den Weg gab: dass sie nicht zu schnell bewerten, sondern versuchen sollten, die Menschen, die sie untersuchen, in ihrem Handeln zu verstehen. Wenn nun aber Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihren Fallstudien vor allem eine psychologisierende Kritik und eine Psychologisierung der Interviewpartner vornehmen, ohne zuvor die Entscheidungskriterien des in Frage stehen Sachverhalts auch nur im entferntesten Ernst zu nehmen, handeln sie im Grunde wie – ich formuliere es bewusst provokativ – poststalinistische Ideologen oder selbsterklärte Wächter des offiziell für richtig erklärten Narrativs. Eine verstehende und herrschaftskritische Soziologie, die nicht voreilig bewertet, sieht anders aus.
Anders formuliert: es kann durchaus sein, dass die Charakterorientierungen mancher Interviewpartner:innen sich mit der Hypothese des libertären Autoritarismus beschreiben lassen. Dadurch jedoch sind die inhaltlichen Positionen, die diese Personen geäußert haben, keineswegs automatisch falsch. So zu denken, ist ein Zeichen binärer Denkschemata, von denen die beiden Akademiker:innen doch Abstand nehmen wollten. Im Endeffekt der Reflexion ihres Argumentationsganges lässt sich der Verdacht nicht beiseite schieben, dass das Buch von Amlinger und Nachtwey (2022) hier eine besondere Funktion im öffentlichen Diskurs übernimmt: nämlich jenen Prozess der Delegitimierung (radikaler) Systemkritik, den der Kognitionsforscher und Gesellschaftskritiker Rainer Mausfeld (2018: 207ff.) als „Verklammerungsstrategie“ der herrschenden Eliten in der postdemokratischen Bundesrepublik Deutschland bezeichnet hat, indem linke Positionen mit rechten Diskursen „verschmolzen“ und damit „unsagbar“ werden. Dadurch ist eine inhaltliche Auseinandersetzung – hier mit der Corona-Politik – nicht mehr möglich (und nicht nötig), denn es sind ‚unsoliarische Antidemokraten‘ oder „libertäre Autoritäre“, die kein Problem damit hätten, neben Rechtsextremisten aufzutreten (wie Amlinger und Nachtwey vorwurfsvoll an vielen Stellen des Buches schreiben: in Einleitung und Schluss, z.B.).
Und auch empirisch ist ihre These zu kritisieren. Ihr empirisches Material ist ungeeignet, eine soziologische Beschreibung der Charakterorientierungen von jüngeren Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland zu beanspruchen. Hierfür ist der empirische Zugriff zu selektiv, so dass eine gehaltvolle Aussage über die Grundgesamtheit der Charakterorientierungen mutmaßlich rechtspopulistisch geneigter Bewegungen in spätmodernen Gesellschaft(en) jeder wissenschaftlichen Begründung entbehrt. Empirisch betrachtet ist ihr Studienmaterial nicht mehr als eine – zudem stark subjektive – Zusammenschau hermeneutischer Fallstudien, die noch nicht einmal die Prinzipien einer verallgemeinerungsfähigen Stichprobe erfüllen (möglichst zufällige oder systematische Auswahl der Studienteilnehmer:innen, möglichst repräsentativer Querschnitt durch die Gesellschaft oder das interessierende Teilsystem: Intellektuelle / soziale Bewegungen).
Hierdurch kommt es zu dem methodologischen Kardinalproblem, dass es sich bei den präsentierten Studienergebnissen um erkenntnistheoretische „Artefakte“ handeln könnte, wenn suggeriert wird, dass sich die problematischen Verhaltens- und Persönlichkeitsaspekte eines „libertären Autoritarismus“ (vermehrt?) bei „gefährlichen“ Antidemokraten finden, die als „regressive Modernisierungsverlierer“ zu (rechts-)populistischen Ideologien neigen. Diese singuläre Korrelation kann nicht überzeugen. Viel plausibler ist es gemäß ihrem gesellschaftstheoretischem Rahmen indes, dass diese von ihnen inkriminierte Charakterorientierung in den spätmodernen Gesellschaftsschichten viel verbreiteter ist. Empirische Hinweise bzw. diskursive Belege eines jüngst – gewissermaßen als Antidot zur AN-Studie – herausgegebenen Buches von den (Querdenkern?!) Marcus Klöckner und Jens Wernicke (2022) zum Corona-Unrecht deuten darauf hin, dass ein aggressives (Aus-)Schließungsdenken, das Amlinger/Nachtwey (2022: 349f.) gelegentlich sogar nur bei einer einzelnen (!) Person nachweisen, gerade auch auf Seiten der „Konformisten“ (um einen klassischen Begriff der Kritischen Theorie in einen irritierenden Kontext zu stellen) der staatlichen Pandemiepolitik im Übermaß vorhanden gewesen ist (vgl. auch Schorb/Schmidt-Semisch 2021).v
Bereits in seinem frühen Buch über die Irritation der Pandemieausrufung hat der unorthodoxe Publizist Paul Schreyer (2020) die kluge Beobachtung gemacht, dass auf Seiten von Vertretern wirrer Verschwörungstheorien oder Verursachungstheorien einerseits und den besonders lauten Verteidigern des von der staatlichen Pandemiepolitik verordneten richtigen Verhaltens in der Pandemie andererseits eine charakterliche Ähnlichkeit festzustellen sei, nämlich: der „Wunsch nach eindeutigen Wahrheiten“ (Schreyer 2020: 19) Dies gilt nicht nur für die einfachen (und falschen) Erklärungen einer Weltverschwörung hinter der Covid-19-Pandemie, sondern auch für die Sichtweise einer rein problemorientierten und keineswegs interessenorientierten Wissenschaft zur Planung und Umsetzung der angemessensten Form der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, die der rationale Staat nur umsetze. „Beide Haltungen, sowohl die strikte Orientierung an ‚Verschwörungstheorien‘ wie auch deren pauschale Ablehnung, gehören strukturell zusammen und sind Ausdruck der gleichen Sehnsucht nach Eindeutigkeit.“ (Ebd.)
III
Bevor sie in die Untiefen des Buches zum libertären Autoritarismus eingestiegen sind, hätten man dem in der Schweiz lebenden Akademikerpaar raten sollen, sich etwas grundlegender mit den inhaltlichen und sachlichen Argumenten der Kritiker:innen, jenes alternativen Diskurses, von dem sie in ihrem Schlusskapitel meinen, dass es diesen auf der „Linken“ gar nicht gibt, auseinanderzusetzen. Spätestens mit der voluminösen Studie von Karl-Heinz Roth (2021) sollten den sich selbst als „links-progressiv“ verstehenden Politiker:innen, Aktivist:innen und Sozialwissenschaftler:innen doch klar geworden sein, dass an dem von Anbeginn der Pandemie an dominanten Narrativ einer rationalen staatlichen Pandemiepolitik etwas nicht stimmt. Hochoffiziell ist ja nun auch die Feststellung des Sachverständigenbeirats der Bundesregierung (BMG-Sachverständigenausschuss 2022: 11) zur Bewertung der Ingangsetzung des Infektionenschutzgesetzes (IfSchG), dass die staatlichen Maßnahmen keine rationale (Daten-)Grundlagen zur Eindämmung der Pandemie hatten. Die an gleicher Stelle geäußerte Schlussfolgerung der ministeriellen Evalutionskommission, die Politik und auch die Wissenschaft müsse hiermit umgehen (ebd.), ist zwar realpolitisch verständlich, aber ein Beispiel für das Steuerungsversagen einer ‚rationalen‘ Seuchenpolitik und der relativen Einflusslosigkeit einer gesundheitswissenschaftlichen Politikberatung (Gerlinger 2021: 404ff.; Mosebach/Schwartz 2022: 547f.).
In jedem Fall aber zeigt sich in der Ignoranz der erheblichen Widersprüche der Covid-19-Pandemie der eklatante Mangel der qualitativ ausgerichteten sozialpsychologischen Studie von Amlinger und Nachtwey: es ist nicht möglich, aus den Charakterorientierungen von Menschen auf die inhaltliche Richtigkeit von Sachverhalten zu schließen.vi Wer dies dennoch tut (und das tun sie zumindest implizit), handelt im Grunde wie die von George Orwell zurecht angeklagten Totalitaristen des 20. Jahrhunderts: er oder sie psychologisiert dissidente Auffassungen, ohne diese auf ihren Realitätsgehalt eigenständig zu überprüfen oder – wie Hannah Ahrendt einwandte – ihnen überhaupt das Recht zuzugestehen, eine eigene Auffassung zu entwickeln. Damit wird schließlich eine Grundmaxime der Aufklärung hintergangen: sich seines eigenen Verstands zu bedienen, um ein/e mündige/r Bürger:in sein zu können (Immanuel Kant). Amlinger und Nachtwey (2022) machen sich mit ihrer Studie somit zu „Kombattanten“ auf einem gesellschaftspolitischen Konfliktfeld, welches wesentlich davon geprägt ist, dass zunehmend „Antagonismen“ (Mouffe 2005) entstehen bzw. binäres Denken zu sog. „devil-shifts“ (Sabatier et al. 1987) führen, die den Konfliktgehalt spätmoderner Gesellschaften spürbar erhöhen und damit – auch gewaltförmige – ideologisierte Auseinandersetzungen fördern. Der (oberflächlich) plausible Hinweis, die Undurchschaubarkeit der Welt durch den Einzelnen sei eine Konsequenz komplexer Gesellschaften (AN 2022: Kap. 3), sieht nachdrücklich aus wie eine hilflose Entschuldigung für die Vermeidung interdisziplinären Denkens.
IV
Die politische Linke ist sprachlos und gesellschaftlich mittlerweile recht resonanzfrei, da ist Amlinger und Nachtwey (2022: 345f.) zuzustimmen. Aber sie zerfällt nicht, weil es keine Alternativen mehr gibt oder weil alternative Positionen nicht mehr formuliert werden. Sie zerfällt, weil gesellschaftspolitische Alternativpositionen diskursiv ausgegrenzt werden. Und der eigentliche Skandal des Buches ist, dass das Akademikerpaar – möglicherweise gegen die eigenen Intentionen – genau einer solchen Diskursschließung das Wort redet, indem sie den „libertären Autoritaristen“ in ihrer unreflektierten universellen Ethik unterstellt, sie würden sich „unsolidarisch“ verhalten und müssten demzufolge staatlichen Gemeinwohlmaßnahmen folgen, ohne auch nur im Entferntesten zu reflektieren, dass bzgl. der Corona-Politik – und von nichts anderem rede ich hier – keineswegs von einer rationalen Pandemiepolitik gesprochen werden kann (vgl. BMG-Sachverständigenausschuss 2022).vii
Sie suggerieren somit den – logisch betrachtet – unzulässigen Umkehrschluss, dass Kritiker:innen der staatlichen Pandemiepolitik ‚libertäre Autoritäre‘ sind. Genau diese fehlerhafte Schlussfolgerung hat das Buch so populär gemacht und an die Spitze der Bestsellerlisten geführt. Insofern kann ich die Lektüre dieses Buches nicht empfehlen, wenn es als „Beitrag“ zur kritischen Aufarbeitung der Corona-Pandemie gelesen werden möchte. Bestenfalls geht es als – empirisch dürftige – Ansammlung erster Überlegungen über manche neue Charakterorientierungen und einer intellektuell interessanten, aber langatmigen und akademischen Aufbereitung des „autoritären Charakters“ für spätmoderne Zeiten durch. Wer dennoch meint, dass es sich lohnen könnte, es zu lesen, sollte wenigstens die hier gemachten kritischen Hinweise beim Lesen reflektieren.
Zitierte Literatur:
Amlinger, Caroline/Nachtwey, Oliver (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin: Suhrkamp.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bischoff, Joachim/Radke, Björn (2022): Pandemien des 21. Jahrhunderts, in: Sozialismus 2/2022, S. 8-12.
Bourdieu, Pierre et al. (1990): Das Elend der Welt, Konstanz: UVK.
BMG-Sachverändigenausschuss (2022): Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IFSG, o.O.: URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/BER_lfSG-BMG.pdf (04.12.22).
Gerlinger, Thomas (2021): Public Health und Politikberatung, in: H. Schmidt-Semisch/F. Schorb (Hrsg.): Public Health. Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, Wiesbaden: Springer, S. 393-410, DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8_21 (02.01.23).
Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript.
Lessenich, Stephan (2022): Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, Berlin: Hanser.
Habermas, Jürgen (2021): Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation, in: Blätter f. dt. u. int. Politik 9, S. 65-78.
Klöckner, Marcus/Wernicke, Jens (2022): „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Das Corona-Unrecht und seine Täter, Neuenkirchen: Rubikon Verlag.
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Mosebach, Kai (2021): Staatsphilosophie: vom Ende der Kritischen Theorie. In: Gesundheitspolitische Kommentare. Spa(h/n)nende Zeiten mit Lauterbachs Strumpf, URL: https://blog.politisch-oekonomie-gesundheit.de/staatsphilosophie-vom-ende-der-kritischen-theorie (02.01.23).
Mosebach, Kai (2022): Pandemien im 21. Jahrhundet oder Impfen für den Standort Deutschland? Eine polemische Replik zur ‚linken‘ Intervention von Bischoff/Radke in Sozialismus 2/2022. In: Gesundheitspolitische Kommentare. Spa(h/n)nende Zeiten mit Lauterbachs Strumpf, URL: https://blog.politisch-oekonomie-gesundheit.de/pandemien-im-21-jahrhundert-oder-impfen-fuer-den-standort-deutschland-eine-polemische-replik-zur-linken-intervention-von-bischoff-radke-in-sozialismus-2-2022 (02.01.23).
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Schorb, Friedrich/Schmidt-Semisch, Hennig (2021): Ausgangssperren, Bußgelder und Immunitätsausweise: Umrisse einer Punitivität im Kontext der COVID-19-Pandemie, in: H. Schmidt-Semisch/F. Schorb (Hrsg.): Public Health. Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, Wiesbaden: Springer, S. 525-540; https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8_29 (02.01.23).
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Schrappe, Matthias/Francois-Kettner, Hedwig/Knieps, Franz/Pfaff, Holger/Püschel, Klaus/Glaeske, Gerd (2020b): Thesenpapier 2.0. Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19: Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren: URL: https://schrappe.com/ms2/einzel/thesenpapier_corona2.pdf (22.02.21).
Schreyer, Paul (2000): Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte, Frankfurt a.M.: Westend.
van Rossum, Walter (2021): Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen, Neuenkirchen: Rubikon.
Weingart, Peter (2011): Die Stunde der Wahrheit. Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Studienausgabe. Dritte Auflage, Weilerswist: Velbrück.
ANMERKUNGEN
iAN 2022, d.h. Amlinger/Nachtwey, 2022 bezieht sich mit den Kapitel- und Seitenangaben im Folgenden auf das zu besprechende Buch.
iiIn der Corona-Pandemie kam es zu einem permanenten Grenzüberschreiten von Wissenschaftlern in die Politik und von Politiker:innen in die Wissenschaft, das die berechtigte Frage aufwirft, wer hier eigentlich wen berät oder steuert; und mit welchem Interesse (vgl. Weingart 2011; van Rossum 2021; Gerlinger 2021).
iiiAmlinger und Nachtwey intonieren in ihrem Buch auch den normativen Anker bzw. Mythos eines weitgehend von ihnen unbestimmten „Gemeinwohls“ oder einer „Solidarität“, die ein diskursiver Reflex des legitimatorischen Diskurses der staatlichen Pandemiepolitik ist. Abgesehen davon, dass das staatliche Pandemiehandeln die eigentlich schützenswerten Menschen (nämlich sowohl Kinder und Jugendliche einerseits und Hochbetagte Bewohner:innen von Pflegeheimen und Krankenhäusern andererseits) nicht schützen konnte bzw. unnötigerweise sozial isolierte oder gar impfte, wird von AN ein nebulöses „Geweinwohl“ zum Maßstab der korrekten Verhaltensweisen von Bürgerinnen und Bügern während der Pandemie erhoben. Dies erinnert – in umgekehrter Stoßrichtung als Amlinger und Nachtwey denken – an jenen im „neosozialen Sozialstaat“ (Lessenich 2008) angelegten sozialen Mechanismus, mit dem die soziale Anerkennung von Herrschaftsunterworfenen an den moralischen Anforderungen und Erwartungen der (links-)liberalen Eliten gemessen wird (siehe die analoge Argumentation von Bischoff/Radke 2022 sowie meine Kritik: Mosebach 2022). Amlinger und Nachtwey sind sich dieses Problems nicht bewusst.
ivFür diese Erkenntnis einer mangelhaften „Universalität“ der staatlichen Pandemiepolitik muss man noch nicht einmal diese als ‚falsch‘ oder gar für ‚übertrieben‘ halten. Von der staatlichen Pandemiepolitik haben vor allem Kopfarbeiter profitiert (das Schweizer Akademikerpaar also in jedem Fall). Unterstellt man, dass das Virus wirklich so gefährlich war, wie es das herrschende Narrativ zu Beginn titulierte – man kann das durchaus in Frage stellen – , ist es unerklärlich, warum Menschen in Sammelunterkünften, (zu) kleinen Wohnungen oder auch Schlachtbetrieben und ähnlichen Fabriken weiter arbeiten mussten, denn diese Gruppen waren zu Beginn aufgrund der Charakteristiken des „Virus“ reichlich ungeschützt vor einer Infektion. Zudem ist es nicht gelungen, in der sog. „zweiten Welle“ im Winter 2020/21 viele alten Menschen in Kliniken und Pflegeheimen zu retten. Von einem universellen Charakter der staatlichen Pandemiepolitik kann also überhaupt keine Rede sein.
vIch kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. In einer offiziellen Facebook-Gruppe meiner Heimatstadt wurde im Jahr 2021 zur Mitte der Impfkampagne von Seiten einiger Personen die – variantenreiche – Aussage gemacht, dass wenn Impfverweigerer an Covid-19 erkranken würden und hospitalisiert werden müssten, sie doch „hoffentlich“ schnell versterben, damit ein Krankenhausbett für geimpfte, aber leider an Covid-19 schwer erkrankte Menschen (wieder) frei werde. Diese Aussage wurde zumeist mit menschenverachtenden Attributen versehen, die hier wiederzugeben ich mich geniere. Auch hier regiert(e) offenbar die „blanke Angst“ oder der „blinde Hass“ auf Andersdenkende, die oder der aufgrund der tatsächlichen Entwicklung (Altersmedian der Covid-Mortalität über 80 Jahre), höchst irrational war. Oder war es schlicht nur „libertärer Autoritarismus“ (ich will aber das Bett haben!), diesmal nur anders herum? Ungeimpfte waren – und dass ist eine zutreffende Kritik von Klöckner/Wernicke 2022 – gesellschaftlich verachtet und dass obwohl klar war, dass der Impfstoff keinen Beleg dafür hergab, dass Infektionsketten durch ihn gebrochen würden. Wer anderes behauptete, kannte schlicht die „Fakten“ der Zulassungsstudien nicht (unrühmlich in diesem Zusammenhang ist auch die pejorativen Positionierung von Bischoff/Radke 2022 hinsichtlich der „Gefährdungen“ von Ungeimpften im Umfeld der Zeitschrift „Sozialismus“, die ich einer scharfen Kritik unterzogen habe: Mosebach 2022).
viEinen forschungsstrategisch deutlich vorsichtigeren Standpunkt hat der neue Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung, der Wohlfahrtsstaatsforscher Stephan Lessenich, in seiner jüngsten Krisendiagnose spätkapitalistischer Gesellschaften angelegt. In einer sozialtheoretischen Reflexion über (exkludierende) Normalisierungsprozesse in diesen Gesellschaften umgeht er nicht nur die Corona-Krise (obwohl es doch naheliegen würde, folgte man Amlinger und Nachtwey, die „Querdenker“ entsprechend als „Normalisierer“ zu etikettieren. Er setzt sich auch vorsichtig von den linken und linksliberalen Binaritäten ab, indem er vor allem das „Verunsicherende“ an der Corona-Pandemie hervorhebt (ebd.: 9-13), sie aber systematisch in seine gesellschaftspolitische Analyse nicht integriert. Mehr noch: er deutet eine vorsichtige, aber eindeutige Kritik der Pandemiepolitik an (ebd.: 32); ich habe den entscheidenden Absatz dieser Rezension vorangestellt.
viiAuch Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2022: 352) kritisieren an einer Stelle die staatliche Pandemiepolitik, aber in entgegengesetzter Richtung. Das „Risiko einer Pandemie“ war schon lange bekannt und der Staat sei deswegen schlecht vorbereitet gewesen, weil er keine „systematische[r] Vorsorge“ (ebd.) betrieben habe, was immer das heißen mag. Abgesehen von diesem eher allgemeinen Truismus sagt diese These überhaupt nichts darüber aus, wo denn die Fehler gelegen haben mochten (vgl. dazu: Mosebach/Schwartz 2022: 587f.). Folglich ist ihre Aussage damit praktisch nichtssagend und ein weiterer Beleg für den (problematischen) Verzicht auf eine sachliche Analyse der kulturellen Konfliktgegenstände und eine recht naive Wissenschaftsgläubigkeit.