April 14, 2020

SARS-CoV-2 oder Covid-19: wie gefährlich ist es? Teil II

Im zweiten Teil der Auseinandersetzung mit der Frage, wie gefährlich Covid-19 ist, werde ich mich mit der Entwicklung in China auseinandersetzen. Doch zunächst gilt es, eine Ergänzung zum ersten Teil zu formulieren.

Die chinesische Pionierstudie, mit der ich mich dort auseinandergesetzt hatte, ist zwar hinsichtlich der quantitativen Bewertung der Gefährlichkeit oder auch der Intensivpflegenotwendigkeit zu kritisieren, das heißt aber nicht, dass sie gar keine Erkenntnisse gebracht hat. Im Kern hat sie drei zentrale Schlussfolgerungen ermöglicht, die aber nicht sinnvoll quantifiziert werden können:

Erstens hat sie gezeigt, dass der Ausbruch von SARS-CoV-19 offensichtlich sehr stark mit einem lokalen Fisch- und Wildtiermarkt in Wuhan zusammenhängt (sog. „wet market“, mit zum Teil noch lebenden Tieren, die dort zum Schlachten verkauft werden). Interessanterweise hat die Studie jedoch auch gezeigt, dass der erste Fall von vermutetem Covid-19, vom 1. Dezember 2019, keinen Bezug zu diesem Markt zu haben scheint. Ist das die dünne Evidenz, mit der chinesische Autoritäten den USA vorwerfen, das Virus in China eingepflanzt zu haben? Oder ein (sehr schwaches) Indiz für einen Labor-Ausbruch? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.

Zweitens belegt die Studie nachdrücklich – wenn auch mit der Einschränkungen, das nur Patientinnen und Patienten im Krankenhaus untersucht wurden – , dass die neuartige Viruserkrankung schwere Krankheitsverläufe und auch tödliche Folgen haben kann.

Drittens schließlich ist die Erkenntnis bedeutsam, dass dieses erneute zoonotische Virus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann, denn einige Patientinnen und Patienten in der Studie hatten keinen direkten Kontakt zu den vermuteten Quellen auf dem genannten Fisch- und Wildtiermarkt. Wobei zu ergänzen ist, dass die Ausbruchsdynamik bislang nicht abschließend geklärt wurde (Stand: 09.07.21).

Nun zum Thema des II. Teils: Die Situation in Wuhan (Region Hubei) hat sich heute: 14.04.2020) nach offiziellen Zahlen grundlegend entschärft. Seit dem 19.03.2020 wurden seit Ausbruch der Krise im Dezember 2019 kaum noch Fälle mit Covid-19 von den zuständigen Behörden in Wuhan registriert. Der leichte Zuwachs der Fälle in China geht auf aus dem Auslang bzw. durch Rückkehrer bedingte „eingeschleppte Fälle zurück, so zumindest die offiziellen Verlautbarungen. Die von Wolfgang Wodarg geäußerte Skepsis bezüglich der Fallentwicklung in China in den vergangenen Wochen, ein Virus höre nicht plötzlich auf, sich zu verbreiten, lassen wir hier zunächst einmal beiseite, auch wenn es einige Hinweise für die Plausibilität dieser These gibt (s.u.; Südkorea ist da noch rätselhafter). Die von ihm unterstellte politische Manipulation der Zahlen, lässt sich so schnell weder belegen noch widerlegen (siehe aber: hier). Eine pauschale Kritik dieser Manipulationsvorwürfe ignoriert diese die von ihm grundsätzlich kritisierten massiven Eingriffe der chinesischen Autoritäten in die privaten und öffentlichen Bewegungsräume in Wuhan. Selbst wenn man die Maßnahmen der chinesischen (und anderer) Behörden (zurecht) aus demokratietheoretischen und menschenrechtlichen Gründen kritisiert, bedeutet das allerdings auch nicht, dass sie keinen die Infektionsdynamik dämpfenden Effekt hatten. Etwas , was Wodarg grundsätzlich nicht interessiert, da er (weiterhin) die Krise als Nicht-Krise betrachtet.

Widmen wir uns also im Folgenden zunächst der Entwicklung der Zahlen in der Kernregion Hubei, in der auch das Epizentrum der globalen Pandemie, Wuhan, liegt, seit Mitte Dezember 2019, indem wir die täglichen Situationsreporte der Weltgesundheitsorganisation in Genf auswerten. Von Anfang an Stand die Region Wuhan im Mittelpunkt der Epidemie und die WHO dokumentierte bis zum 15.03.2020 die regionalen Fallzahlen nicht nur für Hubei, sondern auch andere betroffene Binnenregionen in China. Seit den Situationsreports vom 16.03.2020 werden von der WHO die (kumulierten und in den letzten 24h neu aufgetretenen) Fälle nur noch für Gesamtchina ausgewiesen. Am 16.03.20 betrug die Gesamtzahl der Fälle 81.077 bei insgesamt 3.218 Todesfällen. Für ganz China wurden nur noch 29 neue Fälle in den letzten 24 Stunden übermittelt. 14 neue Todesfälle wurden registriert. Am 13. April 2020 betrug die Anzahl der gesamten Todesfälle an Covid-19 für dieses Land mit 83.597 Personen immerhin noch eine Steigerung seit dem 16. März von absolut 2.520 Fällen, was einer prozentualen Steigerung um 3,1 % entspricht. Das entspricht einer täglichen Steigerung um 90 Fälle. Die Sterblichkeit hat sich in dem gleichen Zeitraum um 4,1% erhöht, auf 3.352 (absolut um 133 Todesfälle). Die Sterblichkeit in China Betrug folglich am 13. April 2020 ziemlich genau 4,0% (case fatility rate, Verhältnis der Todesfälle zu den Fällen mit Covid-19), wobei allerdings China erst seit Anfang April auch asymptomatische Fälle mitzählt (–> Reuters). Die Gesamtzahlen liegen wohl insgesamt höher. Hinweise, dass in China viel höhere Todeszahlen in lokalen Krematorien auffielen, sind bisher offiziell nicht bestätigt worden. Hier können auch geopolitische Interessen eine Rolle spielen, wird doch von manchen politischen Akteuren die Corona-Krise auch als „Chance“ begriffen, das chinesische politische System zu destabilieren bzw. zu „demokratisieren“. Auch hier scheint die Wahrheit wegen geopolitischen Implikationen (wieder einmal) zuerst zu sterben.

Die Maßnahmen in der epidemischen Kernregion (Hubei) sind sehr radikal gewesen und umfassten ein striktes Ausgehverbot, das mit den in Deutschland geltenden Einschränkungen nicht vergleichbar ist, d.h. sich von diesen erheblich unterscheidet. Seit dem 11.03.20 dürfen in Wuhan wieder wichtige Firmen mit nationalen oder globalen Lieferketten ihre Produktion starten, zumindest teilweise. Der chinesische Staatschef, Xi Jinping, erklärte demgemäß laut einem Bericht DES SPIEGEL am 10. März die Epidemie in Hubei für „im Wesentlichen eingedämmt“. Die oben kalkulierte Steigerung der Covid-19-Fallzahlen um 3,1% seit dieser Verkündung der erfolgreichen Eindämmung der Krise ist allerdings kein Anzeichen eines endgültigen Endes, auch wenn ein Blick auf das Covid-19-Dashboard der Johns-Hopkins-University bei den täglichen Fällen seit dem 23. Februar 2020 ein ruhiges Ausglimmen zeigt. Glaubt man den Statistiken aus China, wobei anzumerken ist, dass die chinesischen Behörden im Februar die Falldefinition geändert haben, so ist das mit diesen Maßnahmen gelungen, die Ausweitung von Covid-19-Fällen auf Regionen außerhalb Hubeis im Wesentlichen zu verhindern. Am 08.04.2020 wurde in Wuhan der „lockdown“ offiziell für beendet erklärt. Die Qualität der Zahlen aus China wird allerdings nicht nur in dem genannten SPIEGEL-Beitrag kritisiert, auch in der New York Times vom 02.04.2020 wird unter Berufung auf einen CIA-Bericht aus dem Februar 2020 die Richtigkeit der Angaben bezweifelt. Das gilt allerding auch für Deutschland und ist (wenigstens: auch) der unmittelbaren Echtzeit-Betrachtung eines Outbreak geschuldet, dessen Zahlen zu Begin immer relativ unsicher sind. Diese medial angeheizten Zahlenspielereien und das – börsengleiche – Suchen nach der „richtigen“ Zahl führt in die Irre, insofern absolute Zahlen absolut nichts aussagen – jedenfalls nicht in der Seuchenepidemiologie. Relationen sind hier – wie in den Sozialwissenschaften üblich – die entscheidenen Erkenntniskategorien – soviel zur Metatheorie.

Im Folgenden werde ich stattdessen einen Bericht einer gemeinsamen Expertengruppe aus China und der Weltgesundheitsorganisation über die Entwicklung von Covid-19 in China zusammenfassen und ergänzend eine viel diskutierten Studie aus China (veröffentlicht am 28. März 2020 in The Lancet) erörtern, die sich der Untersuchung der klinischen Merkmalen von Patienten mit Covid-19-Infektionen widmet. Die Leitfrage, unter deren Perspektive die Beschäftigung mit den Studien erfolgt, ist: wie ist die Entwicklung der Fälle, der Fallschwere und der erfolgten Eindämmung der Epidemie in China im Vergleich zur derzeitig diskutierten Situation in Deutschland zu betrachten? Worin gibt es Unterschiede? Wodurch lassen diese sich klären?

Beginnen werde ich mit der genannten klinischen Studie aus The Lancet, die als eine multizentrisch-retrospektive Kohortenstudie konzipiert ist und nach den Risikofaktoren (für Tod im Krankenhaus) und klinischen Verläufen von hospitalisierten Patient*innen forschte, die in zwei zentralen Krankenhäusern in Wuhan in bis zum 31.01.2020 entweder verstorben oder (als geheilt) entlassen worden sind. Im Gegensatz zu der zu Beginn dieses Beitrags genannten Studie fokussiert diese Studie also auf Endzustände und kann daher methodisch stringenter einen Zusammenhang zwischen dem Outcome (Endzustand) und in der Studie erhobenen Daten (demograpische, klinische, therapeutische und laborbezogene) untersuchen.

Insgesamt umfasste die Studie 191 Patient*innen, von denen 137 entlassen wurden und 54 im Krankenhaus verstarben. Von diesen 191 an Covid-19 Erkrankten wiesen 91 (also: 48%) Komorbiditäten auf. Deskriptiv betrachtet war der höchste Anteil unter diesen Komorbiditäten (neben der diagnostizierten ursächlich unklaren Lungenentzündung, die zur Krankenhauseinweisung un labordiagnostischen Bestätigung einer SARS-Cov-2-Infektion führte) von Bluthhochdruck (58 P, 30%) und Diabetes (36 P, 19%) sowie Koronarerkrankungen (15P , 8%) gekennzeichnet. Die Verteilung dieser Risikofaktoren im Hinblick auf das Outcome (Tod, Überlebende) war (weitgehend) unauffällig. Dies gilt mit wenigen Ausnahmen allerdings nicht für die anderen klinischen und labordiagnostischen Daten mit einem geringen p-Wert, die zum Teil erhebliche (signifikante) Unterschiede zwischen den beiden Teilgruppen aufweisen (Zhou et al. 2020: 1057, Table 1.).

Die eigentliche statistische Methode möglicher Zusammenhänge erfolgte zum einen durch eine univariable logistische Regression, wo die Odds Ratios (OR) berechnet wurden, womit die „höhere Chance“berechnet wird, bei Vorliegen der jeweiligen Riskofaktoren eher zu sterben als zu gesunden (Signifikanzniveau: 1 % [=0,01]). In dieser univariablen Regression zeigten sich bei vielen Merkmalen eine signifikant-höhere Odds-Ratio (OR), also Chance, bei Vorliegen besonderer Risikofaktoren im Krankenhaus zu sterben. Folgende Merkmale wurden herausgefunden: i) höheres Alter (OR: 1,14) , ii) Koronare Herzerkrankungen (OR: 21,4), iii) mehr als 24 Atemzüge pro Minute, iv) SOFA Score, v) Diabetes (OR: 2,85), vi) Bluthochdruck (OR: 3,05). Viele weitere labordiagnostische Risikofaktoren wiesen ähnliche Odds Ratios auf, sollen aber hier nicht weiter betrachtet werden (ausführlich: Zhou et al. 2020: 1059, Table 3, auch ebd.: 1059ff.). Der Sinn dieser Berechnung der OR dieser klinischen und labordiagnostischen Daten besteht darin, den behandelnden Intensivmediziner*innen Hinweise bzw. Indikatoren an die Hand zu geben, die weitere Prognose der klinischen Entwicklung abschätzen zu können, um ggf. weitere Schritte durchführen zu können.

Das methodische Problem univariabler Regressionsrechnung (hier: logistisch) besteht jedoch darin, dass zum einen mögliche Wechselwirkungen und zum anderen mögliche Parallelitäten der erhobenen Faktoren nicht „berechnet“ werden können. Daher ist es nötig, um entsprechende Risikofaktoren für den weiteren Krankenheitsverlauf und die Assoziation mit dem Endzustand (OR: Tod vs. Leben) mittels einer multivariaten Regression (hier: in logistischer Dimension) zu berechnen. Das Ergebnis besagt, dass bei einem Vorliegen i) höheren Alters, i) einem erhöhten SOFA Score und iii) einem d-dimer-Wert von größer als 1ug/ml bei der Krankenhausaufnahme eine signifikant erhöhte Odds Ratio (d.h. höhere Sterbechance) vorlag. Für die multivariate Analyse wurden fünf Variablen ausgewählt, da bei einer Anzahl von n=54 (Vestorbenen) aus statisisch-methodischen Gründen ein komplexeres multivariates Modell nicht berechnet werden konnte (Zhou et al. 2020: 1056). Neben den bereits genannten war das Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung im multivariaten Modell nicht signifikant (p=0,48; OR: 2,14). Auch in d-dimer-Wert von größer 0,5 zeigte keinen signifikanten Zusammenhang mit dem Outcome: Tod. D-Dimer sind Biomarker für die Auflösung von Blutgerinseln, Fibrinolyse (Normwerte liegen bei einem Erwachsenen bei 0,02 – 0,4 qg/ml). Der SOFA-Score misst den Grad des Organversagen durch Sepsis bei einer/m Patient*in.

Insgesamt lässt sich für die klinische Studie zusammenfassen, dass hohes Alter als signifikanter Risikofaktor betrachtet werden kann, und zwar im Rahmen der multivariaten Analyse auch unter Berücksichtigung der anderen genannten Variablen. Obwohl das Vorliegen koronarer Herzerkrankungen in der multivariaten Analyse nicht signifikant war, wurde hochsensitives Tropinin in 50% der Todesfälle gefunden, was auf akute myokardiare Schädigungen hinweist. Ebenso ein fortschreitendes Organversagen war bei Verstorbenen zu beobachten. 100 Prozent der Verstorbenen wiesen eine Sepsis auf, bei „nur“ 42 Prozent der Überlebenden. Auch starke akutrespiratorische Syndrome traten gehäuft bei der Gruppe der Verstorbenen auf. Besonders markant ist das Auftreten eines septischen Schocks bei 70% der Verstorbenen, wohingegen kein Überlebender einen solchen erlitten hatte. Auch Nierenversagen ist folglich ein häufiges Ereignis gewesen (50 Prozent bei Verstorbenen).

Während eine Fact-Finding-Mission der WHO im Januar 2021 nach Wuhan aufgebrochen ist, um den berühmten „Index-Patienten“ herauszufinden – was ein Jahr nach dem Ereignis etwas schwierig sein sollte -, soll zunächst an diesem Beitrag weitergeschrieben werden. Ich widme mich nun der o.g. Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) der WHO, die vom 16.-24.02.2020 unterwegs war und ihren Report dann veröffenlicht hat. Geleitet wurde die Joint Mission auf WHO-Seite von dem kanadischen Epidemiologen Bruce Aylward, der als Berater des WHO-Generaldirektors fungiert, während auf chinesischer Seite der Epidemiologe Wannian Liang, Leiter des Expertenstabs der chinesischen Nationalen Gesundheitskomission zu finden war. Insgesamt umfasste die Joint Mission 25 Expert*innen aus verschiedenen Gesundheitsbehörden zahlreicher Länder, darunter auch Forscher*innen aus Japan, Russland und Deutschland (Tim Eckmanns vom RKI in Berlin).

Der Joint Mission Report (JMR) besteht aus vier Teilen, der neben den Zielsetzungen insbesondere zentrale epidemiologische Ergebnisse (Teil II), die Bewertung der chinesischen und globalen Reaktionen sowie deren nächsten Schritte beschreibt (Teil III) und abschließend Empfehlung an fünf Adressaten der Weltgemeinschaft enthält, namentlich: (i) China, (ii) Länder mit importierten oder lokalen Covid-19-Fällen, (iii) den (damals noch zahlreichen) Ländern ohne bislang aufgetretenen Infektionen, (iv) die (politische) Öffentlichkeit und (v) für die internationale Weltgemeinschaft im Allgemeinen.

Fortsetzung folgt (Stand: 27.04.2020 bzw. 01.02.2021)

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