September 4, 2025

Das Gespenst des soziologischen Halbwissens über gesundheitswissenschaftliche Zusammenhänge oder: die erstaunliche Halbbildung bei intellektuellen Großgeistern und Kritikern eines niedergehenden „Westens“

Ein Gespenst geht um in der zeitdiagnostischen Literatur über die Krisenhaftigkeit momentaner Weltläufe. Es ist das Gespenst der (gesundheits-)soziologischen Halbbildung bei ausgewiesenen und durchaus mit einem großen Selbstvertrauen ausgestatteten Großdenkern der alteuropäischen und (bar-)weißhäuptigen Soziologen- und Historikerzunft. Bereits in einer früheren Publikation (Mosebach 2022) habe ich mich über die gesundheitswissenschaftliche Inkompetenz ansonsten hochdekorierter Soziologen mokiert, namentlich: Wolfgang Streeck (2021) in seinem durchaus lesenswerten Buch über die kriselnde Globalisierung und den Niedergang des europäischen Integrationsprozesses. Diese Inkompetenz kann freilich kaum überraschen, teilen sie sie doch mit einer ganzen Phalanx von Politikern und Politikerinnen mit selbsterklärter gesundheitspolitischer Sachkompetenz, von den vielfältigen und begriffsstutzigen journalistischen Hofschranzen mal ganz abgesehen (wobei es auch Ausnahmen gibt). Es ist die Kompetenz zu begreifen, dass ein hoher Anteil von so genannten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ohne weiteres mit einer niedrigeren Lebenserwartung einhergehen kann (ohne das BIP in magischer Weise herunterzurechnen, wie es etwa der noch zu erörternde Emmanuel Todd [2024: 238f.] für die USA tut); mehr noch: dass ab einem bestimmten Niveau von gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialliberaler Absicherung es sogar eine sachliche Notwendigkeit für diesen Zusammenhang gibt. Während Wolfgang Streeck in seinem Buch aus dem Jahre 2021 diese Grundidee in der Betrachtung der Bewältigung der so genannten COVID-19 Pandemie durch die europäischen Staaten noch einigermaßen plausibel behauptet (immerhin handelte es sich bei der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie auch um eine Krankenversorgung, die auf die Bekämpfung von infektiösen Krankheiten ausgerichtet ist, selbst wenn zugestanden werden muss, dass die meisten Ausgaben hierfür – Ersatzzahlungen für freigelassene Betten und ineffektive Impfungen – keine wirklichen, positiven gesundheitlichen Effekte hatten), schießt der französische Anthropologe und Historiker, Emmanuel Todd in seinem durchaus lesenswerten, aber auch sehr sperrigen und latent überheblichen Buch über den „Niedergang des Westens“ paradigmatisch und sprichwörtlich den Vogel ab. Er schreibt in seiner Diagnostik vom Niedergang der USA: „Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die Ausgaben des Gesundheitswesens 18,8 % des amerikanischen BIP ausmachen, und das nur, um dann bei einer niedrigeren Lebenserwartung zu enden.“ (Todd 2024: 239) Trotz einer harschen Arztkritik, die die ärztliche Profession in eine Reihe von überbezahlten Anwälten, räuberischen Finanzmanagern, Gefängniswärtern und Geheimdienstmitarbeitern stellt, eine Reihe, die im übrigen sehr amüsant ist und eine tiefe Wahrheit beinhaltet, bleibt der Grundzusammenhang bei ihm: hohe Gesundheitsausgaben müssten eigentlich mit hohen gesundheitlichen Effekten ein hergehen. Nichts liegt jedoch ferner im real existierenden Gesundheitskapitalismus. 

Warum ist das so? Der größte Anteil von Gesundheitsausgaben, die in einem Staat getätigt werden, sind Ausgaben für die Behandlung und Kontrolle von bereits ausgebrochenen Erkrankungen. Es geht bei den Ausgaben für Gesundheit, also überhaupt nicht darum, Gesundheit zu sichern oder herzustellen, sondern bestenfalls eine Gesundheit in der Form wiederherzustellen, damit sie möglichst kapitalistisch produktiv für die Gesamtgesellschaft ist, vulgo: die Beschäftigungsfähigkeit („Employability“) erhält oder aber die Kosten für Nicht-Mehr-Arbeitsfähige möglichst reduziert, auf ein Minimum, das den Anschein von Sozialstaatlichkeit und Humanismus noch einigermaßen vorgaukelt. Zwar ist es in der Tat richtig, dass die gesundheitspolitisch-ideologische Rhetorik zunehmend in Richtung Prävention und Vermeidung von Erkrankungen geht; das spiegelt sich jedoch überhaupt nicht im Ausgabegebaren des jeweiligen Gesundheitssystems. Die Gesundheitsausgaben steigen also, weil die Gesellschaft kränker wird beziehungsweise die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit zunimmt. Todd (2024: 215ff.) zitiert ja auch an früherer Stelle eine bekannte sozialepidemiologische Studie renommierter Forscher, die gerade zeigt, dass die Lebenserwartung in den USA dramatisch abgenommen hat (die Rede ist von: „Death of Despair“ von Anne Case und Angus Deaton [2020]). Deren Diagnostik jedoch, dass dies auf verschiedene soziale Faktoren zurückgeführt werden muss, bleibt von dem französischen Anthropologen und Historiker offenbar aber unbegriffen (siehe auch: Hall/Lamont 2009, 2013). Aus der sozialepidemiologischen Forschung ist bekannt, das ist aber offenbar Wolfgang Streeck und Emmanuel Todd intellektuell und wissenschaftlich nicht zugänglich, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen nur einen Bruchteil dessen erklärt, was der französische Forscher und Intellektuelle sowie der deutsche Soziologe als realistische Krise des Westens interpretieren: nämlich die Stagnation bzw. der Rückgang der (durchschnittlichen) Lebenserwartung und die Steigerung der Kindersterblichkeit, vor allem in den USA. Viel wichtiger für deren Anstieg aber auch für die skandalisierte Existenz von zunehmender Fettleibigkeit (so das denn valide nachgewiesen werden kann: kritisch Schorb 2009) sind sozial ansozialisiert Lebensstile, Gesundheitsrisiken im Erwerbsleben (sozial ungleiche Belastungen vs. Ressourcen) und materielle Benachteiligungen (Marmot/Wilkinson 2006; Siegrist/Marmot 2008; WHO 2008). Um es zu pointieren: das Grundübel der Gesellschaften ist die zunehmende soziale Ungleichheit (Marmot 2004, 2015; Wilkinson 1996, 2005; Wilkinson/Pickett 2010, 2018). Insofern ist es äußerst dümmlich, etwa die sogenannte Fettleibigkeits–Pandemie in den USA (global betrachtet: ein Mythos) – als Symptom für eine individuelle Disziplinlosigkeit in den kulturellen Tiefenstrukturen des Westens zu verorten, wie das Todd tut. Hier zeigt sich eine zutiefst konservative Sichtweise auf die sozialen Probleme im neoliberalen Kapitalismus (ganz im Sinne von Daniel Bells [1991] kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus), die den arroganten Geist eines im Wissenschaftssystem privilegierten „Staatsadligen“ (Bourdieu 2004) atmet, der von keinem Selbstzweifel gepeinigt wird. Seine im analytischen Sinne „realistische“ Perspektive auf den Niedergang des Westens ist daher durchaus von normativen Vorurteilen geprägt und nicht halb so objektiv, wie er von seiner Analyse behauptet. Seine These vom Niedergang des Protestantismus und der Religiosität insgesamt als Ursache für den Niedergang des Westens ist zwar intellektuell anregend, aber sachlich nicht überzeugend, ignoriert sie doch weitgehend die historische Konkurrenzthese des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels zur Erklärung des Aufstiegs des Kapitalismus (Marx/Engels/Varoufakis 2018) und bläst ein Symptom zur Ursache auf. Die Todd’sche Erzählung atmet die (paradoxerweise: ahistorische) Überzeugung der Verabsolutierung der Weber’schen These des Aufstiegs des Kapitalismus durch den Geist des Protestantismus und ignoriert sowohl den theologischen Charakter des Neoliberalismus als auch die Möglichkeit von Religiosität jenseits monotheistischer Konzeptionen. Trotz mancher kluger Erkenntnisse über den Niedergang des Westens, die sich zumeist der Rezeption von Sekundärliteratur und der – immerhin ! – aufmerksamen Lektüre der internationalen Presse verdanken, bleibt der Niedergang des Westens bei ihm im Prinzip unbegriffen. Die Diagnose vom Ende des Protestantismus als seine monologische Ursache lädt zu sehr zu einer neofundamentalistisch-protestantischen Politikwende ein, dessen bekanntester Protagonist wohl der derzeitige US-Vizepräsident JD Vance ist (der autoritär-libertäre Peter Thiel war ein – wie in den Fußnoten zu lesen ist – wichtiger Gesprächspartner von Todd zum Verständnis der soziokulturellen Situation der USA). Doch das ist ein anderes Thema.

Kehren wir zum gesundheitswissenschaftlichen Unverständnis bzw. Halbwissen zurück: eine Aufschlüsselung der Gesundheitsausgaben nach Klassen und Schichten kann zeigen, dass in der Summe die meisten Gesundheitsausgaben durchaus für Erkrankte und – gesetzt eine sozialstaatliche Absicherung des Zugangs zu Krankenversorgung ist vorhanden, was man in den USA keineswegs behaupten kann – sozioökonomisch und sozialkulturell Benachteiligte ausgegeben werden (denn die sind öfters und schwerer krank als ihre „disziplinierten“ Klassenfeinde aus der Ober- und Mittelschicht). Die Gesundheitsausgaben pro Kopf (und Sozialschicht/Klasse) verteilen sich freilich eher im meritokratischen Sinne. Klammert man den Status des ernsthaft Erkranktseins (deren pro-Kopf-Ausgaben aber auch sozial stratifiziert sind) aus, kann man theoretisch plausibel zeigen, dass (medizinisch nicht besonders dringliche) elektive Leistungen und Wahlleistungen von höheren sozioökonomischen Schichten maßgeblich die Ausgaben des Gesundheitssystems dynamisieren, während chronisch Erkrankte aus sozioökonomisch und sozialkulturell abgehängten, d.h. sozial stigmatisierten und desorganisierten, Schichten die Verlierer eines solchen kapitalistisch organisierten Gesundheitssystems sind (die Reckwitz’schen [2024] Modernisierungsverlierer fühlen ihre Modernisierungsverluste „Verlust“ also körperlich-existenziell). Es ist also nicht nur so, dass die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit über die Zunahme von Erkrankungen, Störungen und frühen lebensbedrohlichen Situationen bei sozioökonomisch/soziokulturell niedriger stehenden Schichten die höheren Gesundheitsausgaben erklärt (ohne die durchschnittliche Lebenserwartung groß zu erhöhen). Vielmehr können die höheren Einkommensschichten (die zunehmend reichere Mittel- und Oberschicht, deren Spitze(n) Todd zurecht als „liberale Oligarchie“ [2024: passim] bezeichnet) über die Privatisierung von Versicherungsleistungen, die zumeist als Zusatzsicherung gekauft werden, das Gesundheitssystem zur Optimierung ihres Wohlbefinden okkupieren und dabei die Basisversorgung der weiteren Bevölkerung unter den Bedingungen fiskalischer Austerität und neoliberalen Sozialabbaus unterminieren, indem sie deren materielle und reale Zugangschancen zum Versorgungssystem reduzieren (Wartelisten, Zeitressourcen, Zuzahlungen, Wissen). Diese differenzierten, nichtsdestotrotz theoretisch bekannten und empirisch auch – wenn auch durchaus nicht direkt, weil die statistische Erhebung von Gesundheitsausgaben dies nicht hergibt – belegbaren Zusammenhänge können die großen Geister der derzeitigen, nennen wir sie alteuropäische oder auch altsozialdemokratische, Kritik am Niedergang des Westens offenbar nicht begreifen. Traurig, aber wahr. Bei aller Berechtigung vieler Kritikpunkte an der europäischen Integration oder der Hybris des Westens wäre ein wenig interdisziplinäre Redlichkeit und selbstkritische Reflexion durchaus hilfreich, solche ideologischen Plattitüden zu vermeiden. Es gibt keine wertneutrale Wissenschaft und keine objektiven Begrifflichkeiten in der Betrachtung des Soziokulturellen und Historischen, auch wenn die Suche nach ‚Wahrheit‘ damit recht steinig wird! Der naturwissenschaftliche Standard des Experiments ist hier nicht gültig. Ohne theoretisches Bewusstsein und kritische Begriffsreflexion reproduzieren sich nur Mythen und herrschaftskompatible Ideologien. Objektive Sozial- und Geisteswissenschaft ist so gesehen – wenn nach dem Bild der Naturwissenschaften gebaut – eine (wirkungsmächtige) Illusion. Ein Verzicht auf Wahrheitssuche bedeutet dies aber noch lange nicht. Dennoch gilt: die Wahrheit liegt nicht nur sprichwörtlich manchmal (nur) im Auge des Betrachters.

Zitierte Literatur

Daniel Bell (1991): Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York: Campus.

Anne Case/Angus Deacon (2020): Death of Despair and the Future of Capitalism, Princeton: Princeton University Press.

Pierre Bourdieu (2004): Der Staatsadel, Konstanz: UVK.

Peter Hall/Michéle Lamont (Eds./2009): Succuessful Societies: How Institutions and Culture Affect Health, Cambridge: Cambridge University Press.

Peter Hall/Michéle Lamont (Eds./2013): Social Resilience in the Neoliberal Era, Cambridge: Cambridge University Press.

Karl Marx/Friedrich Engels/Yanis Varoufakis (2018 [1848]): The Communist Manifesto … with an Introduction by Yanis Varoufakis, London: Vintage Press. 

Michael Marmot (2005): Status Syndrome. How your social standing directly affects your health, Lonon: Bloomsbury.

Michael Marmot (2015): The Health Gap. The Challenge of an Unequal World, London: Bloomsbury.

Michael Marmot/Richard G. Wilkinson (Eds.) (2006): Social Determinants of Health. Second Edition, Oxford: Oxford University Press.

Kai Mosebach (2022): Aspekte des Konsolidierungsstaates im Gesundheitswesen – konstruktive Anmerkungen zur Wolfgang Streecks „Konsolidierungsstaats“-These, URL: https://blog.politisch-oekonomie-gesundheit.de/aspekte-des-konsolidierungsstaats-im-gesundheitswesen-kritische-bemerkungen-zu-wolfgang-streecks-konsolidierungsstaats-these/(zugegriffen: 02.09.2025). 

Andreas Reckwitz (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin: Suhrkamp.

Friedrich Schorb (2009): Dick und doof und arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert, München: Droemer.

Johannes Siegrist/Michael Marmot (Hrsg.) (2008): Soziale Ungleichheit und Gesundheit: Erkärungsansätze und gesundheitspolitische Folgerungen, Bern et al.: Huber.

Wolfgang Streeck (2021): Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Zwischen Globalismus und Demokratie, Berlin: Suhrkamp.

Emmanuel Todd (2024): Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall, Frankfurt a.M.: Westend.

Richard G. Wilkinson (1996): Kranke Gesellschaften. Soziales Gleichgewicht und Gesundheit, Wien/New York: Springer.

Richard G. Wilkinson (2005): The Impact of Inequality. How To Make Sick Societies Healthier, New York/London: The New Press.

Richard G. Wilkinson/Kate Pickett (2010): The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London: Penguin. 

Richard G. Wilkinson/Kate Pickett (2018): The Inner Level. How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Well Being, London: Penguin.

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